Das virtuelle Modell in der Archäologie


Oliver Bruderer MA




Kontinuität des 3D-Mediums in Dokumentation, Analyse und Vermittlung

3D-Modelle visualisieren in der Archäologie vor allem bestehendes Wissen. Das grosse Erkenntnis-Potential von digitalen 3D-Technologien im Forschungsprozess wird dabei selten ausgeschöpft. Dieses Masterprojekt macht innovative Vorschläge für den Einsatz von virtuellen Modellen in der archäologischen Forschung und Wissensvermittlung.


Gestalterisches Mentorat
Joe Roher


Kooperationspartner*innen
Tobias Krapf, 
Archäologe und wissensch.
Sekretär bei der
Schweizerischen
archäologischen Schule
in Griechenland (ESAG)


Alexandra Tanner,
Architektin und Bauforscherin,
Fachbereich Klassische
Archäologie der Universität Zürich


Virtuelle Modelle erlauben im Sinne eines Arbeitsmodells bereits im Forschungsprozess, Entwürfe zu beurteilen und weiterzuentwickeln. Dadurch sind sie hervorragend geeignet für die Arbeit an Rekonstruktionen in der Archäologie. In der Vermittlung wiederum erlauben sie einem Publikum einen ganz anderen Zugang, als es zweidimensionale Bilder oder Text alleine vermögen. Durch die Digitalisierung entstandene Möglichkeiten sind bisher aber nur wenig erkundet.

In Kooperation mit der «Schweizerischen Archäologischen Schule in Griechenland» (ESAG) wurde die virtuelle Rekonstruktion einer antiken Stoa (Säulenhalle) in Amarynthos, Griechenland, angefertigt. Die unvollständige Erhaltung macht dabei ein systematisches Vorgehen beim Rekonstruktionsversuch sehr wichtig, um wissenschaftlichen Ansprüchen bereits im Erkenntnisprozess zu genügen. Für die Kommunikation der Resultate sollte die Rekonstruktion im Kontext ihrer Quellen vermittelt werden. Eine interaktive Anwendung erlaubt es, die verschiedenen Ebenen zwischen Befund und Rekonstruktion, Fakt und Hypothese, kritisch zu vermitteln. Der Prototyp zu einer solchen Anwendung wird hier als Resultat dieses Masterprojekts präsentiert.





Prototyp einer möglichen interaktiven Aufbereitung, erstellt über Adobe XD.
Prototyp in neuem Fenster öffnen.



Virtuelles Modell eines Grabungsbereichs, erstellt mittels “Structure from Motion”.


Das dokumentierende Modell
Die ersten virtuellen Modelle werden bereits auf der Ausgrabung zur Dokumentation der Befunde erstellt: Durch den Einsatz von „Structure from Motion“ (SfM; auch vereinfacht Fotogrammetrie genannt) können über Fotografien und die entsprechende Software detaillierte 3D-Modelle von Fundobjekten oder ganzen Ausgrabungsflächen generiert werden werden. Diese Modelle sind nicht nur für die Archivierung wichtig (ein Punkt, der tatsächlich noch manche Fragen aufwirft), sondern bieten eine grossartige Grundlage für verschiedene Anwendungen. So lassen sich davon Vorlagen für orthografische Fundzeichnungen generieren; die Modelle unterstützen den Rekonstruktionsversuch in der 3D-Software; und in der Vermittlung ermöglichen sie eine Gegenüberstellung von Befund und Rekonstruktion.



Screenshot aus Agisoft Metashape – Zu sehen ist die Punktwolke des Grabungsgeländes, mit den Markern für die Ausrichtung an einem Koordinatensystem

Diese Abbildung zeigt die vier Berechnungsschritte in Agisoft Photoscan: Ausrichtung der Fotos; Dichte Punktwolke; Polygonobjekt ohne und schliesslich mit Textur.



SfM-Aufnahmen diverser Antefix-Fragmente.




Während der Grabungskampagne 2019 in Amarynthos konnte ich rund 60 Fundobjekte sowie wichtige Bereiche der Grabung über “Structure from Motion” dokumentieren. Diese Modelle bildeten eine wertvolle Ressource für zukünftige Arbeiten fern von der Grabungsfläche.



Zeichnungen spielen trotz allen digitalen Möglichkeiten nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Dokumentation. Denn anders als die technischen Aufnahmeverfahren stellen sie eine erste Interpretation der Befunde dar – bei der Zeichnung werden bspw. einzelne Details bewusst hervorgehoben. Dabei ist es  wichtig, dass die Zeichnung  am Originalobjekt stattfindet, denn nur dort erkennt man alle wichtigen Informationen. So können auch Dimensionen sehr genau abgemessen und in der Zeichnung eingetragen werden.
Das Beispiel hier zeigt die drei Schritte zur Fundzeichnung des Triglyphenblocks M1414: Vorlage ab SfM-Modell; grobe Vorzeichnung mit Bleistiftzeichnung und eingetragenen Dimensionen; schliesslich die publikationsfertige lineare Zeichnung.







Modellierungsschritte bei der Rekonstruktion eines Tegula-Ziegels.

Das entwerfende Modell
Wenn auch viele Rekonstruktionsmodelle primär für die Vermittlung erstellt werden, so kommt ihnen unweigerlich auch eine entwerfende Komponente zu. Denn ähnlich dem Arbeitsmodell in der Architektur werden am 3D-Modell Ideen umgesetzt, die sich gleichzeitig evaluieren lassen oder bestehende Lücken und Schwachstellen aufzeigen. Dadurch dient das Modell als eine Art dreidimensionaler Entwurf, der kontinuierlich weiterentwickelt wird. Auch zweidimensionale Rekonstruktionsvorschläge lassen sich bei der Umsetzung in drei Dimensionen evaluieren und erlauben eine gesamthafte Darstellung der Inhalte. Methodisch gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie über 3D-Modelle Wissen generiert werden kann.




Ausgabe von verschiedenen Säulenfragmenten über einen 3D-Drucker im Massstab 1:10.

Zwischen den Miniatur-Fragmenten liessen sich mehrere Anpassungen finden. Dadurch konnten selbst Fragmente kombiniert werden, die im Original an unterschiedlichen Orten gelagert wurden.

Die Rekonstruktion wurde anschliessend im virtuellen Raum wiederholt. Durch diese Methode konnten schliesslich zwei Säulentrommeln in ihrem Umfang und ihrer Höhe bestimmt werden.



Rekonstruktionsprozess des Dachstuhls: Modellierung in Cinema 4D, wobei lediglich der ungefähre Abstand der Balken bekannt war. Hier werden die Balkenreihen aus zwei unterschiedlichen Richtunge so platziert, dass sie anschliessend sauber zusammengefügt werden können.


Der finale Rekonstruktionsvorschlag für den Dachstuhl sieht so aus. Auch wenn viele Überlegungen mit einfliessen, die Rekonstruktion von nicht erhaltenen Bereichen bleibt oftmals eine recht hypothetische Angelegenheit.





Screenshot finaler Prototyp – Die virtuelle Rekonstruktion wird mit zusätzlichen Bildern und Texten versehen, was eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit den archäologischen Inhalten ermöglicht.



Das vermittelnde Modell
Das digitale Medium bietet für die Kommunikation der Ergebnisse eines archäologischen Projektes vielfältige Möglichkeiten. In ihrer digitalen Form lassen sich die Modelle, unter Verwendung entsprechender Software, virtuell in drei Dimensionen präsentieren – dadurch können besonders auch Objekte mit einer komplexeren Form gut verstanden werden.
Ein weiterer Vorteil liegt in der Verknüpfung mit anderen Inhalten: Eine interaktive Aufbereitung erlaubt es, die Modelle mit weiteren Informationen zu hinterlegen. Gerade bei der Vermittlung von archäologischen Rekonstruktionen mit einem hohen Grad an Interpretation und Hypothese wird  Transparenz geschaffen, indem die Quellen und Entscheidungsschritte mit angegeben werden. Dadurch kann dem Publikum ein direkter Zugang zu den Befundobjekten gegeben werden, was schliesslich auch zu einem besseren Verständnis der archäologischen Arbeits- und Denkweise führt.




Erste Entwürfe zur Darstellung der Inhalte.


Renderings für einen vorangehenden Prototypen.




Finale Modelle, wie sie auch im Prototyp hier verwendet werden.


Komplexe Informationen – Der finale Prototyp in der Arbeitsoberfläche von Adobe XD. Jede blaue Linie zeigt einen Interaktionspfad an. Durch die vielen Interaktionsmöglichkeiten können die Inhalte nach persönlichem Interesse erfahren werden. Das erlaubt  eine intensive Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Inhalten, ausgehend von der virtuellen Rekonstruktion.



Mein Masterstudium endet mit dem hier präsentierten interaktiven Prototypen und damit bei der konzeptuellen Aufbereitung der Inhalte. Das Rekonstruktionsmodell der Oststoa von Amarynthos ist dabei aber noch nicht am Ende seiner Reise angelangt. Das Projekt wurde für das Nachwuchsforscher-Förderprogramm des Instituts für Designforschung an der ZHdK akzeptiert und geht damit in die zweite Runde. Das ermöglicht mir, das Rekonstruktionsmodell und die interaktive Anwendung nochmals einen Schritt weiterzubringen. Dadurch kann ich ausserdem diverse methodische Werkzeuge verfeinern, die  während dem MA-Projekt zur Anwendung kamen.